Zehn zähe Minuten nestelt der Altpunker jetzt schon an der hölzernen Anzeigetafel, feinperlig steht ihm der Schweiß auf der Stirn, in die lange, weißblonde Strähnen fallen. „Verdammter Mist.“ Er flucht mit rauer Stimmer, dreht den tätowierten Hals hilfeheischend zur Seite, zu den Punkerkollegen, die auf dem trockenen, verbrannten Grün hinter dem Tor lümmeln. Das Unterfangen, den Spielstand zwischen zwei mächtigen Bäumen auszuhängen, verfolgt der Klüngel lachend. „Das wird doch nichts“, zoten sie, als ein schwarzer Hund mit fleckigem Fell an der kleinen Trittleiter schnuppert, die jetzt bedenklich wackelt. Und tatsächlich. Ein Knoten geht auf, das Seil streift von der Rinde und mit einem dumpfen Krachen fällt die Tafel auf den Boden. Der Punker greift sich ratlos in den Neuntagebart, bricht sein Vorhaben dann ab. „Ich mach‘ später nochmal“, murmelt er und schlägt den Schottenrock zurück. Später, also vielleicht während der Halbzeitpause oder auch erst im zweiten Durchgang. Auf dem Rasen läuft schon die 21. Minute der Oberligapartie gegen den SC Concordia, die Hausherren führen seit der 10. Minute mit 1:0. Willkommen beim entspanntesten Verein Hamburgs, willkommen bei Altona 93.
Hier, im Südwesten der Hansestadt, macht man den Balu, probiert es mit Ruhe und Gemütlichkeit. Die Aufgeregtheit und Hektik des Profifußballs scheinen weiter weg, als es der Blick in die Karte weismachen will. 3,9 Kilometer Luftlinie trennen den Nachbarstadtteil St. Pauli von Altona und damit auch das Millerntor von der Adolf-Jäger-Kampfbahn. 3,9 Kilometer, die, hört man sich um, zu wandern immer mehr Fans des Kiezklubs bereit sind. Es ist eine selten gewordene Eigenschaft, die an Altona 93, dem in die Niederungen des Amateurfußballs entschwundenen Traditionsverein, fasziniert: Entschleunigung. Der Spielstand muss nicht aktuell angezeigt, die Mannschaft nicht ohne Unterlass angefeuert und das Bier nicht auf Ex gekippt werden, weil zu befürchten steht, dass es einem die nächste Torchance aus der Hand schlägt. Entschleunigung. Auch zwanzig Minuten nach dem Anpfiff trudeln noch Zuschauer ein in dieses Stadion, das gleichsam aus der Zeit gefallen scheint.
Aus einem Stadion vor unserer Zeit
Dem Eingangstor sieht man, obgleich frischgetüncht, sein Alter an, seit 1908 werden hier die Karten abgerissen. Auf der langen Gegengerade schält sich der Lack von den schiefen Wellenbrechern, die Außenbande, aufklebergepflastert, setzt unten Moos an und oben Spinnweben. Überall bricht Gras und Unkraut durch die betonierten Stufen. Dichtes, dorniges Gebüsch wellt von hinten über die Ränge, auf die sich zu Hochzeiten, den goldenen Fünfzigern, regelmäßig 27.000 Zuschauer drängelten. Die Natur erobert sich ihr Areal zurück und der Verein lässt sie gewähren. Den 31. Spieltag wollen heute nur 312 Zuschauer sehen, die Flora stört nicht, im Gegenteil. Die grünenden Traversen passen gut zum Mythos der Griegstraße. Altona 93 gilt als Biotop, das trotz oder wegen seiner Abgerissenheit Charme statt Scham ausstrahlt. Groundhopper loben die Adolf-Jäger-Kampfbahn in Foren gerne als Leuchtturm alter Fußballästhetik, als Insel im Meer der Multifunktionsarenen. Ihr maroder Chic zieht jeden zweiten Sonntag Fans, Neugierige und vor allem Romantiker an.
Der Verfall macht auch an den Auswechselbänken nicht Halt. Das Blechdach staut die glühende Hitze bis zum Sonnenstich. Kühleren Schatten verspricht da schon das Plastikschalenmeer der Haupttribüne – oder gleich die Meckerecke. Der kleine Block quetscht sich neben den Wurststand und das Klubheim. Er ist die Heimat rüstiger Endsechziger, für die der Begriff Kiebitz einst erfunden wurde. Kollektiv recken sie hier die Hälse, einer setzt sogar ein Fernglas an die getönten Brillengläser, als der AFC auf der anderen Seite des Feldes einen Angriff fährt. In Überzahl geht der Schuss daneben, jagt gegen eine verbeulte Werbebande, deren Plastik aufheult wie ein Wolf im Mondlicht. Das Spiel ist schlecht, sehr schlecht. Fast schon will man die Lobhudelei auf den Stadtteilverein als verklärte Gestrigkeit abstrafen. Aber Altona 93 ist mehr als nur dieser Sommerkick und das Stadion.
Die Faszination Altona 93 entspringt auch dem Spannungsverhältnis zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Der Verein war Gründungsmitglied des DFB, am Anfang des 20. Jahrhunderts Hamburger Serienmeister und bis zur Einführung der Bundesliga in der Oberliga Nord, der höchsten Klasse, vertreten. 1955 und 1964 durfte man sich gar DFB-Pokalhalbfinalist nennen. Gute, alte Zeit. Dieser Tage wären die 93er schon froh, wenn es ihre Mannschaft mal ins Finale des Hamburger Oddset-Pokal schaffen würde. Nicht viel besser sieht es im Ligaalltag aus: Seit dem einjährigen Intermezzo in der Regionalliga Nord anno 2008/09 pendelt der Verein im oberen Drittel der Hamburg-Staffel. Der Aufstieg wird konsequent anvisiert und genauso konsequent verpasst. Es bleibt die bizarre Bestandsaufnahme eines Vereins, der für Hamburg zu groß und für die Regionalliga zu klein scheint. Eigentlich müsste man dem AFC seine eigene Liga zwischen diesen Welten erfinden.
Wider den Kommerz
Die Fans reagieren auf das Darben mit beeindruckender Stoa. Warum sich über etwas aufregen, das man nicht ändern kann? Anderswo wird der Mannschaftsbus eingekesselt oder eine Kurve boykottiert, in Altona friesisch-herbe Gelassenheit kultiviert. Man hat sich mit dem Schicksal abgefunden, nie zu den ganz Großen zu gehören. Dieser Hang zur Genügsamkeit wurde dem Verein oft als unambitionierter Eskapismus ausgelegt. Als Protest gegen den Protest. Dabei will sich die Fanszene von Altona 93 gar nicht dem Erfolg verweigern. Nur eben seinen Begleiterscheinungen. Der Dauerbeschallung durch große HiFi-Anlagen, gesponserten Eckballbilanzen, den VIP-Logen und Separees. Es ist das alte Lied, klar, wider den Kommerz, aber in Altona ist man dafür Opfer zu bringen bereit.
Auch Burkhard Masseida wanderte einst vom FC St. Pauli zu Altona 93 ab. Als die Braun-Weißen nach dem Bundesligaabstieg 2002 die gesamte Mannschaft ziehen ließen und den Klassenerhalt als Ziel ausriefen, ohne Eintrittspreise anzugleichen, da wollte er nicht mehr. Er hatte genug. Die Griegstraße, vormals nur Zweitresidenz neben dem Millerntor, wurde erste und einzige Heimat. Heute ist Masseida Fanbetreuer. Er trägt Kutte und verkauft Aufkleber, die Kuttenträger zeigen. Und er erzählt von der Fanszene Altonas, die auch sehr links sei, sehr politisch, dies aber eben mit viel mehr Understatement auslebe als der Kiezklub. „Wir verstehen ein Fußballspiel nicht als Antifademo“, sagt Masseida, und dann noch einen Satz, den man als Credo über die Stadionpforte schlagen könnte: „Wir wollen in Ruhe Fußball gucken.“
Zwischen Freibad und Grillfest
So pendelt das Image von Altona 93 also, schwer fassbar, irgendwo zwischen Tradition, Erfolgshunger und Kult. Vor einigen Jahren wurde mal versucht, diese Identität offensiv zu bewerben. In weiße Sonntagsanzüge gewandet lächelte der Kader damals von Plakatwänden, die Spieler stiegen aus teuren Sportwagen und Helikoptern, und im Hintergrund der Hochglanzcollage grinsten die zahnlosen Bauwagenpunks vom Zeckenhügel. Die Kampagne wurde alsbald eingestellt, zu groß war ihre Janusköpfigkeit. Das Image vom kommerz- und werbefreien Klub bewerben, das funktionierte einfach nicht. Und so erinnert auch dieser Maisonntag mit der Partie gegen den SC Concordia wieder mehr an ein gemütliches Grillfest im Kreise der Familie, an Freibad und kollektives Sonnenbaden, bei dem die Bräune nur nicht am Beckenrand getankt wird, sondern unweit der Seitenlinie. Als um 14:48 Uhr abgepfiffen wird, hat Altona 93 mit 1:3 verloren. Man sieht Schulterzucken allenthalben. Der Aufstieg ist schon lange abgehakt und die Niederlage deshalb, obwohl ärgerlich, eher: egal. Schnell lehrt sich die Adolf-Jäger-Kampfbahn. Zurück bleiben nur die Punks und ihre Anzeigetafel. Die lehnt noch immer träge am knorrigen Fuße des Baumes. Als Spielstand weist sie ein 0:0 aus.
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